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PORTRÄTS
PORTRÄTS
Tragöss - Grüner See
Servus Magazin Juli 2011
OH WANDERER, KOMMST DU NACH TRAGÖSS
Von dunklen Höhlen und alten Sagen, von saftigen Almen, grünen Seen und Menschen, die dieses Natur-Idyll niemals verlassen wollen. Eine Wanderung mit Herbert Rust, für den die Berge und die Musik das Leben sind.
© Foto Philipp Horak
„Na, a so a Pracht! Da kummts her, des müassts euch anschaun!“ Zwei gstandene steirische Mannsbilder fallen mitten am Berg in helles Entzücken, während wir vorsichtig versuchen uns einen schmalen Steig entlang zu hanteln. Über uns ragen die kahlen Felswände der Frauenmauer in den Himmel, unter uns können wir über die Baumwipfel hinweg die sanften Wiesen der Gsöllalm als kleine grüne Flecken gerade noch wahrnehmen.
Vor einer Stunde haben wir die Hütte dort passiert, noch im gemütlichen Wanderschritt, bevor wir zu zweibeinigen Gemsen mutierten, um uns dem steilen Aufstieg zur Frauenmauerhöhle zu stellen. Anfangs noch recht schwerfüßig, mit der Zeit aber immer leichteren Trittes. Vermutlich weil das Panorama der Hochschwab-Gruppe nicht nur den Blick sondern auch das Herz öffnet.
Bergführer Herbert Rust aus Thörl und Harry Auer von der Berg- und Naturwacht Eisenerz können es jetzt jedenfalls kaum erwarten, uns ihre Entdeckung zu zeigen. Es ist ein leuchtend-gelbes zwölfdoldiges Petergstamm-Duo, wie es selbst die beiden selten so prächtig zu sehen bekommen. Die geschützte, auch als Aurikel bekannte Pflanze fühlt sich auf dem kalkhaltigen Boden recht wohl und blüht so wie der Enzian hier ab Anfang Mai. Ab Mitte Juni zeigt sich der seltene Frauenschuh und ab Juli dann das Edelweiß in voller Schönheit. Natur pur also, „und wart ab, wennst erst einen Steinbock siehst“, hat uns der Herbert vor unserem Aufbruch zugeflüstert, „das ist ein Erlebnis, das wirst nie vergessen!“
62 ist er jetzt, der Herbert, und in den Tälern von Tragöß, Etmissl und Thörl/St. Ilgen kennt ihn nahezu jeder. Wie fast alle in der Gegend hat er lange in der Metallverarbeitenden Industrie sein Geld verdient, nach 33 Jahren pendeln zu Böhler in Kapfenberg aber einen radikalen Schlussstrich gezogen. Mit 47 Jahren machte er sich selbstständig, bietet seither Dienstleistungen aller Art an und widmet sich ganz seinem Hobby, dem Musik-Instrumentebau.
„Mei Sohn is a i-Tüpferl-Reiter und des is guat a so“, sagt Mama Rust voller Stolz, denn mittlerweile ist Herbert einer von nur mehr acht in ganz Österreich, der Hackbretter baut. Und Glachterbauer kennt er überhaupt nur noch einen einzigen außer ihm und der ist in Kärnten daheim.
Glachter, das sind hölzerne Xylophone, bei denen die Bretter auf Grasbündeln montiert sind. Herbert fertigt sie aus Kirsch- oder Palisanderholz an, die Klöppel sind aus Buchenholz. „Es sind recht einfache Instrumente und eignen sich für schnelles Spiel, weil die Töne kurz und gleich wieder weg sind“, sagt Herbert, der einmal selbst Glachter gespielt hat. Das sei ihm – mehr rasanter Tänzer als guter Musiker – sehr entgegen gekommen.
Komplexer sei da schon ein Hackbrett, bei dessen Herstellung sich Herbert in den letzten zehn Jahren dank seiner Akribie zum Meister entwickelt hat. Selbst in Japan werden seine Hackbretter gespielt, wobei er nahezu auf jeden individuellen Wunsch der Musikanten eingehen kann. Soeben war er in Nürnberg, wo er ein Original-Salterio, die italienische Version des Hackbretts, aus dem Jahr 1727 abgezeichnet hat, weil ein Kunde genauso eines nachgebaut haben möchte. Ob normale diatonische, also steirische, Hackbretter mit 30 Tönen oder große mit 48 Tönen, ob chromatische, also salzburger, oder sogar Kontrabass- und Tenor-Hackbretter mit Dämpfung für klassische Musik – Herbert hat sie alle im Repertoire und kann als einziger in Österreich und Deutschland mit einem Nachklang- und Oberton-Reichhaltigkeits-Messgerät auch die Töne genau überprüfen.
Richtig ins Sprudeln kommt der Herbert, wenn er über seine Instrumente referiert, die im Grunde wie ein umgekehrter Klangkörper eines Klaviers aufgebaut sind. Die außen liegenden Saiten können gezupft oder mit einem Klöppel bespielt werden und während Herbert einem Hackbrett satte Tonfolgen entlockt, glänzen seine Augen voller Leidenschaft. So als würde er mit einem feschen Dirndl über eine Tanzfläche wirbeln. Oder als hätte er gerade einen Gipfel erklommen.
„Ja auf die Berg‘, da hat’s mi immer zogen,“ sagt Herbert, der von seinem Vater bereits als Dreijähriger auf eine Hochschwab-Tour mitgenommen wurde. Bis ins Himalayagebiet habe ihn diese Sehnsucht getrieben. Und weil er nicht nur ewig schon Bergführer ist sondern auch 35 Jahre bei der österreichischen Bergrettung war, hat er wohl jedes Gipfelkreuz des Landes bereits persönlich berührt. Natürlich hat er auch die Frauenmauerhöhle, eine Durchgangshöhle mit 644 Metern Länge zwischen Tragöß und Eisenerz, schon öfters durchquert. Sie wurde früher von Bergarbeitern im Winter als Weg benutzt, um den Lawinen zu entgehen. Weil sich aber zwei Labyrinthe darin befinden, aus denen schon etliche nicht mehr rechtzeitig herausfanden, braucht der normale Bergwanderer einen Höhlenführer.
In unserem Fall ist das Harald Auer, kurz Harry gerufen. Der Hobby-Geologe und Fossilien-Sammler kennt in der bitterkalten – etwa 6 Plusgrade – Höhle jeden Stein und jedes Eisfeld, ja er könnte sich sogar aufgrund des Luftzuges und der Geräusche orientieren, wenn ihm einmal das Licht ausgeht. Und er kennt natürlich jede Menge Geschichten, denn Höhlen hatten für Legendenbildung in der Volkskultur immer schon einen speziellen Reiz. Manchmal steckt durchaus ein bisschen Wahrheit drinnen.
Mitten in der Frauenmauerhöhle zum Beispiel steht die Pfarrerkanzel, ein riesiger Felsblock. Hier sollen sich im Winter 1493 acht Tragößer Bauern versammelt haben, um den Mord an ihrem Pfarrer Melchior Lang zu beschließen und mittels Los zu entscheiden, wer von ihnen zur Tat schreiten muss. Ob der Pfarrer damals exorbitant viel Kirchensteuer eintrieb, oder ob er als sittenstrenger Eiferer und Streiter Gottes von den Tragößern gefürchtet wurde, darüber existieren heute noch unterschiedliche Versionen. Tatsache ist, Lang wurde ermordet, alle acht Bauern wurden hingerichtet ohne den Täter preiszugeben und Peter Rosegger verarbeitete diese Tragödie 1883 in seinem Roman „Der Gottsucher“. Angeblich sollen die Tragößer, die jahrhundertelang als besonders rebellisch galten, danach noch zweimal, 1550 und 1708, Pfarrermorde geplant haben, die aber jedes Mal vereitelt wurden.
Die Tragößer Bauern von heute haben andere Sorgen, als gegen ihren Pfarrer aufmüpfig zu sein. Von der Landwirtschaft allein kann kaum jemand überleben, da braucht es noch andere Standbeine. Klaudia und Bernd Hochsteiner zum Beispiel betreiben im Tragößer Ortsteil Pichl-Großdorf neben der Landwirtschaft das 400 Jahre alte Gasthaus „Zum Kirchenwirt“. Mit Würsten und Fleisch aus der eigenen Schlachterei, die sie mit mehreren Bauern gemeinsam betreiben. Und sie haben Glück. Als ihre alte Sennerin vor sieben Jahren aufhörte, versuchte sich die Hochsteiner-Tochter Martina auf der Neuwaldalm, direkt unter dem Ost-Einstieg in die Frauenmauerhöhle, und kam schwer begeistert wieder nach Hause. Seither betreut sie dort jedes Jahr von Juni bis September das Vieh und bewirtet hungrige und durstige Wanderer. „Allein bin i nie“, sagt Martina, „da kumman imma Leut‘ vorbei.“ Und fürchten täte sie sich schon gar nicht. So wie sich die große 23-Jährige Blondine dabei vor uns aufbaut, glauben wir ihr aufs Wort.
Das 20 Kilometer lange Tragößtal am Fuße des Hochschwab-Gebietes ist nicht nur für Wanderer ein idealer Ausgangspunkt. Seit zehn Jahren zieht es auch immer mehr Taucher hierher. Am Talschluss, umrahmt von der imposanten Bergkulisse des Trenchtling (2.081 m), der Pribitz (1.579 m) und der Meßnerin (1.835 m) liegt der Grüne See. Er entstand in prähistorischer Zeit durch einen massiven Bergsturz der Messnerin und wird hauptsächlich von Schmelzwasser gespeist. Daher ist er im Winter so gut wie nicht vorhanden, schwillt aber im Frühjahr auf bis zu 10 Metern Tiefe an. Nach einem besonders schneereichen Winter vor ein paar Jahren erreichte er seinen bisherigen Höchststand von 11,5 Metern. Davon ist man heuer noch weit entfernt, die Tragößer müssen sogar auf ausgiebigen Regen hoffen, damit die Taucher im smaragdgrünen Wasser ihr Vergnügen finden. Bei glasklarer Sicht bis auf den Grund, allerdings bei frischen 10 Grad Wassertemperatur.
Auch der Lamingbach, der sich durchs Tal hinunter bis zur Mürz schlängelt, ist durch Schmelzwasser im Frühjahr um Zweidrittel höher als im Winter. Hier hat sich am Fuß des Trenchtlings Helmut Wieser ein kleines Naturparadies geschaffen. Nach 40 Jahren in der Finanzwirtschaft und 22 Jahren nebenbei noch als Tragößer Bürgermeister machte auch er einen Radikalschnitt in seinem Leben und widmet sich seither ganz der natürlichen Aufzucht von Bach- und Regenbogenforellen sowie Saiblingen. Die Forelle brauche die Freiheit und müsse natürlich ablaichen können, sagt Wieser, deshalb habe er fünf großzügige, vom Quellwasser gespeiste Teiche angelegt. Die Winzlinge werden mit Netzen vor ihren Feinden, dem Reiher, dem Eisvogel und der Wasseramsel geschützt, auf den kleinen Inseln in den Teichen hingegen haben sich die freundlichen Wildenten angesiedelt.
Die Natur und ihre Nutzung sei wichtig und sehr sensibel, sagt Wieser, und zieht an seiner Pfeife. „Und“, setzt er nach, während sein Blick den glitzernden Sonnenstrahlen folgt, die sich tanzend im Wasser brechen, „wir haben das Glück und die Gnade in einem so herrlichen Gebiet leben zu können.“ Ganze zweimal hat Wieser versucht Urlaub zu machen, einmal in Bad Waltersdorf und einmal in Grado. Beide Male war er unbeschreiblich glücklich wieder ins Tal reinzufahren, die Energie der Berge, des Wassers und der Wälder zu spüren. Holz gehört hier übrigens genauso zum Leben, wie gute Luft, sagt Wieser. Und weil er sich damit auskennt hat er nach alten Plänen ein Holz-Mühlrad gebaut und einen Getreidekasten aus dem Jahr 1730 im Tragößer Unterort Pflock für Pflock abgebaut und in seinem Refugium wieder aufgestellt.
Der Umgang mit Holz hat den ehemaligen Postler und Nebenerwerbsbauern Franz Götschl ebenfalls schon immer fasziniert. Vor allem die traditionelle ostalpine Bauweise eines Bundzauns. Als einziger im Tal weiß er, wie man ohne einen einzigen Nagel, die Holzpfosten akkurat parallel verbindet. Der Nutzen ist dabei eine Sache, die perfekte Linie im Landschaftsbild mindestens genauso wichtig. „Ois was’d dazu brauchst, hoist da ausn Woid“, sagt Götschl. Die Steher sind aus Lärchenholz, weil es am meisten aushält, für die Stangen wird Fichte genommen. Länger suchen muss man für die Bänder. Dazu braucht man 1,5 Meter lange Fichtenäste, die laut Götschl, nicht zu dünn und nicht zu dick sein dürfen und kleine Ästchen sollen auch nicht wegstehen. Diese werden dann über offenem Feuer erhitzt, um Steher und Pfosten gewickelt, und dabei in sich gedreht. Das sieht nicht nur gut aus, es hält auch länger als andere Zäune.
Das Thema Zaun ist auch am Bauernhof von Erni und Walter Zöscher im Tragößer Oberort gerade Thema. Er ist nämlich nicht fertig. Und das alles, weil Sohn Stefan, 21, gestern Nachmittag mit dem Förster, na sagen wir einmal, eine längere Besprechung im Wirtshaus hatte. Nach der Winterpause im Stall dürfen die Milchkühe jetzt zunächst nur eine Stunde hinterm Haus auf die Weide, sonst bekommen sie einen Sonnenbrand am Euter. Damit man sie leichter wieder eintreiben kann, grenzt man ihr Terrain mit einem Zaun ein und der ist… Na Schwamm drüber, bald ist das Braunvieh sowieso oben auf der Sonnschienalm, wo die Zöschers das Servitut, also das Nutzungsrecht, für die Almweiden haben. Spätestens am 10. September müssen die Tiere wieder ins Tal, denn da beginnt die Jagdsaison.
Seine Freizeit richte sich nach den Tieren, sagt der gelernte Landwirt Stefan, der einmal den Zöscher-Hof übernehmen wird. Wobei wir annehmen dürfen, dass seine verständnisvollen Eltern dem Jungspund zusätzlich etwas Auslauf gewähren. Zu hart ist die eigene Vergangenheit noch in Erinnerung, wo die „zuagroaste“ Kindergärtnerin Erni aus Bruck an der Mur unter der strengen Altbäuerin litt. Zuviel zugemutet habe man sich vermutlich auch, sagt Erni, während sie in der Küche bedächtig einen großen Topf Joghurt anrührt. Mit dem Ausbau des Hofes, zwei kleinen Kindern – Tochter Maria, 23, ist heute Gastro-Lehrling in Bruck – und dem Bau einer kleinen Schlachterei. Heute setze man sich nicht mehr selbst so unter Druck, habe auch vor 5 Jahren die Bezeichnung „Bio“ wieder sein lassen. „Wir sind Bio light“, sagt Walter, „und absolut gentechnikfrei. Für Bio hätten wir teures Kraftfutter zukaufen müssen, da geht die Kostenschere so weit auseinander, das können wir uns nicht leisten.“
Aber man arbeite nachhaltig und naturbewusst und nutze die vier Gästezimmer zur Bewusstseinsbildung, damit die Urlauber am Bauernhof daheim dann bereit sind, für ehrliche Qualität etwas zu bezahlen. Immerhin brauche man allein für 1 Kilo Butter 20 Liter Milch, daran denke in der Stadt ja keiner. Und überhaupt sei die Almbewirtschaftung durch die Bauern, sagt Walter, die Grundlage für das wanderbare Hochschwab-Gebiet. Ansonsten würde alles mit Latschen zuwachsen.
Das kann der Wanderer auch im Nebental eindrucksvoll erleben, wo man von Thörl aus über St. Ilgen den Gasthof Bodenbauer erreicht. Hier gibt es nicht nur ein Hochschwab-Museum, hier beginnen auch mehrere Almwander-Routen. Eine der schönsten führt über die Hainzler- zur Joser-Alm mit kleinem See, und weiter über die Klamm- und Sonnschien-Alm nach Tragöß. Auf der Hainzler-Alm, erzählt uns Bergführer Herbert Rust, gibt’s noch eine Sennerin, die Käse macht. Nur mehr heuer, dann setzt sie sich zur Ruhe und hoffentlich findet sich wieder jemand.
Für die Joser-Alm hat sich schon ein neuer Senner gefunden, der sogar Solarzellen für Warmwasser am Holzdach montiert hat. Der hat es überhaupt gut, denkt man unwillkürlich, während man die satte Waldluft einatmet und sich kaum ein idyllischeres Platzerl als den einsamen Josersee vorstellen kann. Und weil wir jetzt auch grad so schön die kahlen Felsen der Meßnerin von der Rückseite betrachten, hat der Herbert noch eine Geschichte auf Lager. Ganz oben unterm Gipfel gibt es nämlich ein rießiges Loch im Berg, das man am besten von Tragöß aus sieht und das genauso groß wie der dortige Kirchturm ist. Durch dieses ist der Teufel mit der Pfarrersköchin durchgebrannt, um rechtzeitig vor Tageslicht in der Hölle anzukommen.
Ja eh, sagen wir zum Herbert, und wenn wir jetzt noch einen Steinbock gesehen hätten, täten wir’s fast glauben. Aber vielleicht klappt das ja beim nächsten Mal.